Klinik für Neurologie
Myasthenia gravis
Erb-Goldflam-Krankheit: doppelt Sehen beim Fernsehen
Fallbeispiel: Die 25-jährige Isabelle bittet ihren Freund, den Fernseher auszuschalten, obwohl der Mordfall im heutigen Tatort kurz vor der Auflösung steht. Sie müsse sich zu sehr auf den Bildschirm konzentrieren und sehe alles doppelt. Dem Freund fallen bei Isabelle leicht hängende Augenlider auf. Bereits vor einer Woche hatte Isabelle am Abend über ähnliche Beschwerden geklagt, sich müde und schwach gefühlt, aber bereits am nächsten Morgen sei wieder alles in Ordnung gewesen. Vor zwei Wochen habe sie sich vorgealtert und kurzatmig gefühlt als sie Einkäufe in den dritten Stock habe tragen müssen.
Eine Myasthenia gravis ist eine seltene Erkrankung und betrifft 2 von 100.000 Menschen. Rund 10 Prozent der Patienten sind jünger als 16 Jahre. Bei konsequenter Therapie können die Beschwerden deutlich gelindert werden. Es besteht dann eine normale Lebenserwartung.
Ursache der Myasthenie
Der Myasthenia gravis und anderen myasthenen Syndromen liegt in der Regel eine Autoimmunerkrankung oder eine Krebserkrankung zu Grunde.
Frei übersetzt bedeutet „Myasthenie“: Muskelschwäche. Es liegt eine Störung der Erregungsübertragung von den Nerven auf die Muskelfasern vor. Der Signalstoff Acetylcholin, der Informationen an der sogenannten motorischen Endplatte chemisch vom Nerv auf den Muskel überträgt, wird nur vermindert ausgeschüttet oder kann an seinen Rezeptoren nicht wirksam werden. Wird der Botenstoff belastungsabhängig verbraucht, tritt dadurch die Muskelschwäche stärker zu Tage.
Bei der Myasthenie werden im eigenen Körper Antikörper gebildet, die die Rezeptoren für Acetylcholin blockieren.
Rolle der Thymusdrüse
Es besteht eine erbliche Veranlagung solche Antikörper zu bilden. Hinter dem Brustbein befindet sich der Thymus, ein Organ des Immunsystems, dem eine wichtige Rolle bei der Antikörperbildung zugesprochen wird. Bei Patienten, die an einer Myasthenie erkrankt sind, findet sich häufig eine gut- oder bösartige Wucherung der Thymusdrüse. Daher sollte bei Verdacht auf eine Erkrankung der neuromuskulären Übertragung stets mit einer Bildgebung (Computertomographie, Kernspintomographie) der Brustraum in Hinblick auf den Thymus untersucht werden. Finden sich Auffälligkeiten, sollte, um die Ursache zu beseitigen, operiert werden.
Typische Beschwerden bei einem myasthenen Syndrom
- Belastungsabhängige, schmerzlose Muskelschwäche, auffällig vor allem am Abend
- Doppelbilder, hängende Augenlider
- Besserung am Morgen
- Kau- und Schluckbeschwerden
- Belastungsabhängige Augenmuskelschwäche
- Gewichtsabnahme
- Verschlechterung der muskulären Beschwerden bei Infektion, während der Menstruation oder durch Einnahme bestimmter Medikamente
Klinisch können verschiedene Typen eines myasthenen Syndroms je nach deren Ausprägung und der Laborbefunde unterschieden werden
- okuläre Myasthenie
- generalisierte Myasthenie
- „paraneoplastische“ Myasthenie
Nur bei circa zehn Prozent der Betroffenen bleibt die Muskelschwäche auf die Augenmuskeln beschränkt, wobei im Schnitt 24 Monate vergehen bis die Erkrankung alle Muskeln des Körpers betrifft, also eine „Generalisierung“ der Erkrankung zeigt.
Diagnostik
Die für die Erkrankung als typisch zu erfragenden Beschwerden bringen die Diagnose. In bestimmten klinischen Tests, zum Beispiel dem Simpson-Test, können die Muskelbeschwerden belastungsabhängig objektiviert werden. Auch die Testung des Atemstoßes kann mit einer verminderten Vitalkapazität eine Atemmuskelschwäche anzeigen. Schwächen der Kopf- und Nackenmuskulatur lassen sich ebenso gut durch eine klinische Testung feststellen.
Mit der Elektrophysiologie können mit einer Serienstimulation muskuläre Schwächen bereits frühzeitig objektiviert werden und ein Behandlungserfolg kontrolliert werden. Mit einem Medikamententest, der Gabe von Medikamenten, die in der motorischen Endplatte die Informationsübertragung deutlich verstärken, kann die Diagnose durch die eintretende klinische Normalisierung zusätzlich bestätigt werden.
Mit der Elektrophysiologie können durch eine Tumorerkrankung hervorgerufenen myasthene Syndrome, zum Beispiel das Lambert-Eaton Syndrom, abgegrenzt werden. Oft steckt hinter diesem Syndrom ein bis dahin noch nicht mit Beschwerden in Erscheinung getretener Lungenkrebs (Bronchialkarzinom).
Wichtig ist die Blutuntersuchung auf das Vorliegen von Antikörpern, die die Art der Myasthenie charakterisieren.
Manchmal ist die Myasthenie mit anderen Autoimmunerkrankungen wie einer Schilddrüsenerkrankung oder einem Lupus erythematodes vergesellschaftet, so dass man auf das Vorliegen einer anderen Erkrankung aus dem rheumatologischen Formenkreis achten muss.
Therapie
Wenn möglich, ist die Entfernung von Thymusveränderungen beziehungswiese der Thymus selbst wichtig.
Zur Behandlung der Autoimmunerkrankung kommen Kortikoide oder andere immunsuppressive Therapien wie zum Beispiel das Azathioprin zum Einsatz. Eine Plasmapherese, eine sogenannte Blutwäsche, kann Antikörper aus dem Blut entfernen und bei schweren Verläufen eine deutliche Besserung erbringen.
Beschwerden werden durch die Einnahme von Medikamenten, die die Wirkung des Acetylcholins an der motorischen Endplatte imitieren (Pyridostigmin und Neostigmin), verbessert. Hier müssen je nach Schwere der Beschwerden die richtige Dosis und die richtigen Zeitpunkte ermittelt werden. Vorteilhaft ist, wenn der Patient einen Beschwerdekalender führt, auf den mit einer Umstellung der Therapie reagiert werden kann.
Ebenso wichtig für den Patienten ist es, auf Verschlechterungen zu reagieren, das heißt frühzeitig Infektionen behandeln zu lassen und auf die Nebenwirkungsprofile einzunehmender Medikamente zu achten. Es gibt einige Medikamente, zum Beispiel Antibiotika, die Beschwerden einer Myasthenie dramatisch verschlechtern und auch zu einer Myasthenen Krise führen können. Diese kann die Behandlung auf einer Intensivstation mit künstlicher Beatmung mit sich bringen.
Patienten mit Myasthenie sollten sich unbedingt regelmäßig bei spezialisierten Neurologen vorstellen und Lebensereignisse wie Schwangerschaften oder anstehende Operationen stets mit ihrem Neurologen planen.